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Rückwärts nimmer

Noch bis tief in die Rückrunde 1996/1997 wussten die Wölfe ihre Fans nicht zu elektrisieren. Nach einem 4:1-Prachtsieg über Eintracht Frankfurt gab es dann jedoch kein Halten mehr.

Horst Hrubesch, Uwe Seeler und Toni Schumacher waren gekommen, mit stehenden Ovationen bereiteten die Fans ihrem Idol einen tränenreichen Abschied. Wo sich neun Tage vorher noch Enttäuschung und Unmut breitgemacht hatten, fing Reich das grün-weiße Publikum an diesem 27. April 1997 mit einem rauschenden Fußballfest wieder ein. Im folgenden Heimspiel gegen die Frankfurter Eintracht waren die Wölfe dann nicht mehr wiederzuerkennen. Mit dem bis heute höchsten Erfolg über die Hessen läuteten sie ihren triumphalen Endspurt ein.

VfL nicht auf dem Aufstiegsradar

Das Ergebnis der Trainer-Umfrage zeugte von eindeutigen Kräfteverhältnissen. Durch die Bank legten sich die 18 Zweitliga-Übungsleiter vor dem Saisonstart auf Kaiserslautern als sicheren Aufsteiger fest. Für die Plätze zwei und drei standen Teams wie Hertha BSC und Waldhof Mannheim hoch im Kurs sowie naturgemäß auch der zweite Ex-Bundesligist, die von Dragoslav Stepanovic betreute Frankfurter Eintracht. „Als Absteiger war Frankfurt natürlich ein Mitfavorit, zumal fast die ganze Mannschaft zusammengeblieben war“, blickt Ex-Wölfe-Verteidiger Mathias Stammann zurück. Auf seine eigene Mannschaft, den VfL Wolfsburg, tippte dagegen niemand. „Völlig klar, da wir im Vorjahr mit dem gleichen Team fast abgestiegen waren. Dass es wirklich für den Aufstieg reichen könnte, daran habe ich persönlich erst gegen Saisonende gedacht.“

Vorsaison drückt auf den Zuschauerschnitt

So wie dem heutigen VfL-U15-Trainer ging es im grün-weißen Umfeld im Aufstiegsjahr vielen. Bis sich rund um den Elsterweg eine sich selbst tragende Euphorie entwickelte, dauerte es bis in die Rückserie. Ihre Fans musste die Mannschaft, obwohl sie sich ab dem vierten Spieltag in der Spitzengruppe hielt, erst wieder für sich gewinnen. Was auch daran lag, dass der VfL seine Anhänger trotz der guten Platzierungen selten verwöhnte: Insgesamt 16 Mal spielten die Wölfe bis zum Saisonschluss remis, nicht weniger als neun (!) Partien endeten mit einem gähnenden 0:0. In der Zuschauer-Endtabelle bedeutete das trotz ausverkaufter Hütte im Endspiel gegen Mainz hinter Klubs wie Uerdingen, Zwickau und Gütersloh Platz zwölf – mit einem Schnitt von gerade 6.022 Fans. „Keine Frage: Die schwache Vorsaison wirkte da noch ziemlich nach“, so Stammann. „Aber irgendwann merkte man in der Stadt: Da kann tatsächlich etwas passieren. Und dann ging es richtig ab.“

Aussprache nach dem Zwickau-Spiel

Aus der Winterpause kamen die Wölfe als Vierter. Doch die Heimsiege über Fortuna Köln (2:1), den VfB Leipzig (2:0) und Rot-Weiss Essen (5:1) verloren an Wert, weil es in den Big-Point-Spielen in Berlin (0:1) und Kaiserlautern (0:4) Niederlagen setzte. Um sich nachhaltig oben festzukrallen, hätte es einen Zwischenspurt gebraucht. Doch die Fans wurden aus den Wölfen nicht schlau, weil sie gerade jetzt – wie zum gleichen Zeitpunkt der Hinserie – in eine erneute „Remisnitis“ verfielen. Nach einem verpassten Heimsieg gegen Zwickau (1:1), dem dritten Unentschieden am Stück, war acht Spieltage vor Saisonende der dritte Platz futsch. Der Aufstieg, er schien wie die Rübe vor der Nase zu baumeln: zum Greifen nah, aber die Wölfe kamen einfach nicht ran. Bei einer Aussprache in der Kabine machte die Mannschaft sich Luft. Sauer war auch Peter Pander. „Wir kämpfen um jeden Zuschauer, jeden Sponsoren und bieten dann zu Hause Vorstellungen, die wir uns nicht erlauben dürfen“, polterte der Manager. „Warum versuchen wir nicht einfach, die große Chance zu nutzen?“

Gemeinsame Sache mit den Fans

In diesem heiklen Moment der Saison fuhren die Grün-Weißen nach Mannheim – und legten mit einem unerwartet kaltblütigen 3:1-Erfolg, dem ersten Auswärtssieg seit sieben Monaten, den Hebel um. Es folgte jener herrliche Abend um Stürmerlegende Reich, bei dem sich Mannschaft und Fans weiter annäherten. Als dann Eintracht Frankfurt zum Elsterweg kam, sprang der Funke über. „Auf einmal war in Wolfsburg zu spüren, dass da eine Mannschaft spielt, die etwas Großes schaffen kann“, erinnert sich Holger Ballwanz. Über 8.000 Zuschauer sorgten für die bis dahin zweitstärkste Kulisse des Jahres und erlebten einen Fast-Absteiger der Vorsaison, der den ursprünglichen Aufstiegs-Mitfavoriten nach allen Regeln der Kunst auseinandernahm. Piotr Tyszkiewicz, Ballwanz, Detlev Dammeier, Chad Deering – mit 4:1 räumten die Grün-Weißen die Diva vom Main aus dem Weg. Es war ein Gala-Sieg, der einer Voranmeldung fürs Oberhaus glich.

Gaudino bei Ballwanz abgemeldet

Über zwei Grün-Weiße schwärmten die Gazetten besonders: Libero Jens Keller  und Kettenhund Ballwanz, der Frankfurts Edel-Strategen Maurizio Gaudino komplett aus dem Spiel nahm. „Ich muss gestehen: Das weiß ich nicht mehr. Aber es wird mit Sicherheit so stimmen“, lacht der heutige VfL-Fanbeauftragte. Der eigentliche Trumpf an diesem Tag aber war der Schulterschluss mit den Fans, die das Team mit La Ola, Standing Ovations und „Nie-mehr-2.Liga“-Gesängen auf Händen trugen. „Das hat Fußball-Wolfsburg so noch nicht erlebt“, staunte die Wolfsburger Allgemeine. „Rechtzeitig zum Endspurt im Aufstiegskampf scheint Wolfsburg seine Liebe zum VfL zu entdecken.“

Ehrmanntraut zieht den Hut

Während der VfL den Aufstiegsplatz anschließend nie wieder abgab, endete Frankfurts Saison in einer Enttäuschung. Zu keiner Zeit der Saison wurden die hoch gehandelten Hessen den Erwartungen gerecht, nach einem holprigen Spieljahr kamen sie als Tabellensiebter ins Ziel. Beim 1:1 im Hinspiel, dem ersten Ligaduell überhaupt zwischen der Eintracht und Wolfsburg, waren bereits erste „Stepi raus!“-Rufe laut geworden, ehe der schillernde Serbe zur Rückrunde dann in der Tat ausgetauscht wurde. Horst Ehrmanntraut, der auf Stepanovic folgte, lotste die Frankfurter ein Jahr später sogar als Zweitligameister den Wölfen hinterher ins Oberhaus zurück. Dass die Grün-Weißen nach dem 4:1-Ausrufezeichen am 28. Spieltag nicht mehr zu halten sein würden, daran bestand für den gegnerischen Chefcoach an diesem Samstag kein Zweifel: „Wenn sich die Wolfsburger nicht den Druck aufbürden, aufsteigen zu müssen – dann schaffen sie’s.“