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Melken in Heiligendorf

Mit einem zweiten Stadionsprecher wollte der VfL im Aufstiegsjahr mehr Pepp in die Heimspiele bringen. Rainer Beckert war dafür genau der richtige Mann.

Die Rückkehr in seine alte Manege, das ist nicht zu übersehen, macht etwas mit ihm. „Schauen Sie sich das an, ich habe eine Gänsehaut“, sagt Rainer Beckert, als er vom Treppenaufgang des VfL-Stadions in die leere Stätte des Ruhms blickt. Tatsächlich ist er zum ersten Mal wieder hier, 19 Jahre nach dem Ende seiner kurzen, aber sehr intensiven Laufbahn als Heißmacher vom Elsterweg. Zwischen März 1997 und März 1998 moderierte Beckert als Ergänzung zu Siegmar Kohl das Rahmenprogramm der grün-weißen Heimpartien. Obwohl er schnell wieder abgelöst wurde, blieb er vielen Fans in Erinnerung. Denn seine Rolle als Stadionsprecher interpretierte er reichlich unkonventionell.

Wunsch der Fans: mehr Stimmung

Die Suche nach einem Knipser, die dürftige TV-Präsenz, die Verletzung des Kapitäns – in der Aufstiegssaison gab es etliche Themen, die das VfL-Umfeld über längere Zeiträume beschäftigten. Eines davon waren die oft schmalen Kulissen. Dass trotz aussichtsreicher Platzierungen nur zwischen 3.000 und 5.000 Zuschauer an den Elsterweg kamen, sorgte nicht nur im Lager der Fans für kontroverse Diskussionen. Denn eigentlich meinte man beim VfL die Attraktivität der Heimspiele bereits verbessert zu haben. „Jetzt haben wir mehr Sitzplätze, mehr Überdachung, mehr sanitäre Einrichtungen und sind sogar Erster. Trotzdem kommen so wenige“, rätselte Peter Pander am 8. Spieltag nach dem 0:0 gegen Lübeck. „Mir scheint, wir haben ein grundsätzliches Problem.“

Werbung mit dem Megafon

Zumal auch die Mitgliederzahlen empfindlich abgerutscht waren, wollte man sich allein auf die sportliche Entwicklung nicht verlassen. Wie zu Gründerzeiten kreuzten bald Lautsprecherwagen durch Wolfsburg, um gezielt zu mobilisieren. Zudem unterstützte der Verein eine große Fanumfrage der WAZ zum Kernthema, was genau die Leute im VfL-Stadion vermissten. Eines der Ergebnisse, die daraus resultierten: Zuständig für bessere Stimmung war in den Augen der Leser nicht allein das Publikum. So kam es, dass die „Stimme aus dem Eispalast“ ins Spiel gebracht wurde. Wolfgang Heitmann, der Erste VfL-Vorsitzende, klopfte beim Hallenmoderator der Wolfsburger Eishockey-Mannschaft an. „Ich war sofort begeistert von der Idee und hatte riesige Lust, es auszuprobieren“, erinnert sich Beckert. Beim zweiten Rückrunden-Heimspiel gegen den VfB Leipzig, vor noch 3.265 Zuschauern, legte er los. Es war die Geburtsstunde des grün-weißen Stadionrahmenprogramms.

Erst zwei andere vor ihm

Vom Erlebnischarakter der heutigen Zeit lagen Fußballspiele bis dahin – nicht nur in Wolfsburg – noch meilenweit entfernt. Aufstellungen, Wechsel- und Toransagen, dazu unaufdringliche Musik und vom Blatt verlesene Werbung – die Rolle des Stadionsprechers war in der Regel die einer sich im Hintergrund haltenden, meist ehrenamtlich tätigen Person. Auf anerkannte und durchaus beliebte Weise erfüllte beim VfL diese Funktion seit 1987 Siegmar Kohl, der legitime Nachfolger des zuvor einzigen grün-weißen Stadionsprechers mit dem klangvollen Namen William Wachtel. Bewährte Strukturen also, an denen man im Verein auch nicht rüttelte. „Siegmar war ein großartiger Mensch, der mit viel Herzblut für den VfL gearbeitet hat. Auch mir war es ganz wichtig, dass wir nicht konkurrieren, sondern uns ergänzen“, sagt Beckert. „Ich denke, das hat auch sehr gut funktioniert.“

„Rama Lama Ding Dong“ eingeführt

Die bewährte VfL-Stimme kam weiterhin aus der Sprecherkabine, während Beckert – vom Naturell her Kohls kompletter Gegenentwurf – eine Art „Field-Reporter“ gab. Wie ein Animateur im Urlaubshotel streifte er fortan durch Stadion und nahm die Leute für sich ein. Neu war vor allem, dass er die Fans, auch die gegnerischen, einbezog und spontan interviewte. „Das mochte natürlich nicht jeder, aber oft kamen dabei herrliche Gespräche heraus. Ich erinnere mich an einen Zuschauer aus Jena, der mit seiner heftigen Mundart alle zum Lachen brachte“, so der 59-Jährige. Bei der breiten Masse kam Beckert, eigentlich gelernter Klempner und Installateur, mit seiner humorvollen Art hervorragend an. Der große Plan jedenfalls, die Stimmung bei den Heimspielen zu steigern, ging bald auf, und zwar nicht nur für den Moment. Denn einige seiner Aktionen und Ideen setzten sich bis in die Gegenwart durch. So soll es beispielsweise Beckert gewesen sein, der die erste La Ola am Elsterweg in Gang gesetzt bekam. Was ebenfalls auf ihn zurückgeht, ist „Rama Lama Ding Dong“, die bis heute berüchtigte VfL-Tormusik. „Ein Freund hatte mich auf die Idee gebracht. Wir haben es zuerst beim Eishockey ausprobiert und dann übernommen. Dass es heute immer noch gespielt wird, ist natürlich toll.“

Nur noch kurz im Oberhaus

Der gebürtige Wolfsburger spielte in jener Saison – analog zu manchem Spieler auf dem Platz – die Rolle seines Lebens. Damals den Puck gegen das Leder getauscht zu haben, auch wenn der Zauber nur ein gutes Jahr dauerte, empfindet er im Rückblick deshalb auch als großen Gewinn. „Es hat riesigen Spaß gemacht, gemeinsam mit den Fans etwas auf die Beine zu stellen. Nicht nur wegen des Aufstiegs: Was ich hier erleben durfte, werde ich nie vergessen.“ Selbst in Beckerts Ausscheiden sollte ein Stück weit schließlich Bestätigung liegen. Denn zu Ende ging es für ihn nicht, weil der VfL zum alten Modell zurückgekehrt wäre, sondern sich weiter professionalisierte. Bald nach dem Einzug ins Oberhaus sollte ein Medienpartner die Moderationen übernehmen.

Reporter reingelegt

Auch wenn knapp zwei Dekaden ins Land gezogen sind: Einige seiner Schoten bekommt Beckert, der heute als Autoverkäufer in Braunschweig arbeitet, noch wortwörtlich zusammen. Manche zeugen davon, dass er der Zeit damals ein Stück weit voraus gewesen ist. „Einmal ging es auf dem Spielfeld recht langweilig zu. Da habe ich mir das Mikro genommen und aus Jux einfach durchgesagt, ein Herr Müller aus Heiligendorf möge doch bitte schnell nach Hause kommen, um seiner Frau beim Melken zu helfen“, berichtet er. „Die Resonanz in der Presse werde ich nie vergessen. Ein Boulevard-Journalist hatte den Satz für voll genommen und lästerte, bei unseren Heimspielen würde man den dörflichen Charakter des VfL Wolfsburg immer noch wiedererkennen.“