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Die Fans beim gemeinsamen Lauf zum Stadion.

Grotenburger Gänsehaut

Schon am 33. Spieltag wäre die Sensation theoretisch möglich gewesen. Im Stadion des KFC Uerdingen kam es deshalb zu einer noch nie dagewesenen grün-weißen Fan-Invasion.

Wer die Spannung nicht mehr aushält und auf Nummer sicher gehen will, der kann auch einfach die Sterne fragen. Zu 70 Prozent würde der VfL in Krefeld gewinnen, zu 30 Prozent sei auch ein Unentschieden möglich, beruhigte die Astrologin. Und verriet aus der Zukunft sogar noch diese Details: „Gegen Uerdingen und gegen Mainz schießt der VfL Wolfsburg jeweils ein Tor.“ Mit ihrer letzten Weissagung traf die Kartenleserin, von der WAZ am Tag vor dem VfL-Spiel im Grotenburg-Stadion nach dem grün-weißen Saisonschicksal befragt, aus Versehen den Nagel sogar noch auf den Kopf. „Entscheidend sind die Nerven der Spieler und die Unterstützung der mitgereisten Fans.“

Wolfsburg im Aufstiegsfieber

Denn Uerdingen – das letzte Zweitliga-Auswärtsspiel der VfL-Vereinshistorie – blieb nicht nur wegen des Prachtsiegs in Erinnerung, mit dem sich die Wölfe für das Aufstiegsfinale gegen Mainz qualifizierten. Ein Glanzstück war es in der Tat auch für alle grün-weißen Fans, die das Stadion des Gegners an diesem Tag in einen Hexenkessel verwandelten. „Es hatten sich eine Menge Leute angekündigt, auch die offiziellen Fahrangebote waren sehr gut gefragt“, erinnert sich Philip Henkel. „Trotzdem war ich sehr überrascht, als ich vor Ort gesehen habe, wie viele es wirklich sind.“ Der damals 22-jährige Henkel, der mit einigen Freunden per Sonderzug nach Krefeld fuhr, verpasste zu dieser Zeit schon seit Jahren kaum ein grün-weißes Spiel. In den entscheidenden Wochen der Aufstiegssaison bemerkte er in Wolfsburg eine besondere Spannung. „Man hat in der Stadt gespürt, dass die Chance auf die Bundesliga elektrisiert. Die Menschen sprachen über kaum etwas Anderes. Deshalb ließ man sich, wenn man es irgendwie hinbekam, dieses Spiel auch nicht entgehen.“

Das große Endspiel im Blick

Es war nicht zu übersehen: Etwas sehr, sehr Großes kam auf die Wolfsburger zu. Und tatsächlich hätte an diesem 1. Juni 1997 der Traum bereits wahrwerden können. Hätte Mainz sein Parallelspiel gegen Fortuna Köln verloren und zugleich die Stuttgarter Kickers gegen den VfB Leipzig Federn gelassen, wären die Wölfe vorzeitig aufgestiegen. „Das schien zwar nicht wahrscheinlich. Aber man hätte es sich nicht verziehen, das zu verpassen. Eigentlich ging es uns aber darum, Uerdingen zu schlagen, um dann im letzten Spiel gegen Mainz alles klarmachen zu können“, sagt Henkel, der diese Tour zu den bis dahin intensivsten Auswärtserlebnissen seiner Fankarriere zählt. „Ein Derby in Braunschweig fällt mir noch ein, dann das Abstiegsfinale 1993 in Düsseldorf und natürlich das Pokalendspiel 1995 in Berlin. Trotzdem ragt Uerdingen aber noch heraus.“

Mehr Grün-Weiße als im Hinspiel

Ob erstmals sogar die VfL-Fans bei einem Auswärtsspiel in der Überzahl sein würden, hatten die Zeitungen schon Tage vorher spekuliert. „Alle wollen nach Uerdingen“, titelte etwa die WAZ, nachdem binnen 90 Minuten alle 1.000 Tickets für den längsten von mehreren Sonderzügen vergriffen waren. Auch im Umfeld des KFC Uerdingen, der erst im Vorjahr aus der Bundesliga abgestiegen war und zum Ende einer bitter enttäuschenden Saison nun faktisch um die „Goldene Ananas“ spielte, zog das Interesse noch einmal an. Deshalb blieb am Ende offen, ob das Husarenstück des gedrehten Heimvorteils wirklich gelang. Mindestens 3.000 Wolfsburger aber waren es nichtsdestotrotz, die in Zügen, Bussen oder Privat-PKW an den Niederrhein reisten. Eine Zahl, die angesichts des lange Zeit schleppenden Zuspruchs in jener Saison eine enorme Aussagekraft hatte. „Dass wir dort mit so vielen Leuten aufgelaufen sind“, betont Henkel, „war für mich genauso sensationell wie der 3:0-Sieg.“

Platztausch zwischen Spielern und Fans

Denn die Mannschaft zahlte es den Anhängern auf dem Rasen zurück. „Hut ab vor allen, die für uns so weit gereist sind. Als ich zum Warmlaufen rauskam, hatte ich eine Gänsehaut“, verneigte sich Holger Ballwanz nach Abpfiff des bis heute letzten VfL-Pflichtspiels gegen den KFC Uerdingen, der den Wölfen mit einem Überraschungssieg in Berlin am 34. Spieltag sogar noch zum zweiten Platz verhelfen sollte. Einen Einmarsch wie Gladiatoren, so formulierte es die Wolfsburger Nachrichten, hätte der VfL in der Grotenburg an diesem Sonntag erlebt. Denn egal, ob in der Überzahl oder nicht: Die Grün-Weißen waren von beiden Fanfraktionen die wesentlich lautere. Von den Rängen sprang der Funke aufs Spielfeld und von dort wieder zurück. Nachdem Zoran Tomcic (49.), Sead Kapetanovic (82.) und Sven Ratke (90.) nach einer aufstiegsreifen Leistung den Auswärtssieg beim ehemaligen Werksclub – Bundesliga-Rekordaufsteiger zu dieser Zeit – klargemacht hatten, brachen die Dämme: Die VfL-Fans stürmten den Platz, woraufhin die Profis schnell in die Katakomben gelotst wurden. Da es den VfL-Spielern aber ein Bedürfnis war, mit ihren Anhängern zu feiern, kam es zu einer höchstkuriosen Situation: Statt in den von Ordnern versperrten Innenraum blieben Roy Präger, Jann Jensen und Co., als sie zurück nach draußen wollten, nur der Weg in die Ränge. „Plötzlich standen also die Spieler im Fanblock und wir Fans auf dem Rasen“, lacht Henkel. „Das war wirklich verrückt.“

Eiszeit noch in der Hinrunde

Dass Mainz und die Kickers ebenfalls siegten, konnte die Stimmung schließlich nicht trüben. „Die Hauptsache war, wir hatten unser Endspiel“, so Henkel, der seine Eintrittskarte vom Spiel in der Grotenburg bis heute in Ehren hält und der Uerdingen als bestes Exempel dafür in Erinnerung behielt, was sich zwischen Fans und Mannschaft im Laufe der Spielzeit 1996/1997 entwickelt hatte. Einen anschaulichen Kontrast lieferte etwa ein Rückblick aufs Hinspiel. Dass sich die VfL-Spieler nach Abpfiff des 1:0-Arbeitssiegs damals direkt verkrümelten, anstatt in die Kurve zu gehen, sorgte im Fanlager für gewaltigen Unmut. Peter Pander, Uwe Zimmermann und Michael Spies mussten sich hinterher öffentlich im Namen der Mannschaft entschuldigen, zumal 50 Freiwillige zuvor mitgeholfen hatten, den Platz im VfL-Stadion nach einem Wintereinbruch überhaupt erst bespielbar zu machen. Die Kulisse an jenem Freitagabend markierte einen Tiefpunkt: Es kamen gerade mal 2.500 Fans.