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Polonaise am Plattensee

Sich live über VfL-Spiele zu informieren, war in den 90ern nicht immer einfach. Die Wolfsburger Allgemeine bot im Zweitliga-Endspurt daher einen besonderen Service: das WAZ-Aufstiegstelefon.

Den ganzen Nachmittag lang, gab Ingrid Eckel offen zu, wäre bei ihr zu Hause der Fernseher gelaufen. „Die Familie wollte immer auf dem neuesten Stand sein“, erklärte die Wolfsburger Oberbürgermeisterin. Was in diesem Fall aber nicht bedeutete, dass die Eckels gebannt vor dem Bildschirm saßen, um die Wölfe im Bewegtbild zu sehen. Jedenfalls bewegte sich nicht sonderlich viel. Um über das Auswärtsspiel in Uerdingen auf dem Laufenden zu bleiben, fieberten sie stattdessen am Videotext. Eine Szene, typisch für den Fußballfan in den 90er Jahren. Denn wer abseits des Stadions ein Spiel in Echtzeit verfolgen wollte, dessen Möglichkeiten waren begrenzt. Ganz besonders, wenn er Anhänger eines Zweitligisten war. Hatte man Radio oder Bildschirmtext gerade nicht in der Nähe, war es da eine gängige Methode, einfach zum Hörer zu greifen – und sich direkt beim Verein oder auch der örtlichen Zeitung über die Zwischenstände zu informieren.

Heißer Draht aus der Grotenburg

„Es war durchaus üblich, dass bei spannenden Sportereignissen bei uns die Leitungen glühten“, berichtet Andreas Pahlmann. „Das war zum Beispiel auch beim Eishockey so – und sehr verstärkt bei Spielen des VfL.“ Der heutige Sportchef der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung erinnert sich gut an jene Phase in der Aufstiegssaison, als die Richtung Bundesliga driftenden Wölfe nicht nur die Menschen in Wolfsburg zunehmend elektrisierten. „Die Anrufe kamen von überall und wurden immer mehr. Um einen Extra-Service zu bieten, aber auch für eine bessere Koordination, haben wir deshalb für die letzten zwei Auswärtsspiele die Hotline eingerichtet.“ Stuttgarter Kickers und KFC Uerdingen also, zwei Partien von maßgeblicher Bedeutung für den Zweitliga-Endspurt – für diese VfL-Einsätze schaltete die WAZ eine eigene Fan-Leitung frei. Ein Angebot, das die Zeitung nicht zum ersten Mal einsetzte. So viele Anrufer wie bei diesen zwei Aktionen aber waren ohne Beispiel.

Dauerfeuer auf einen Redakteur

Und so funktionierte das „WAZ-Aufstiegstelefon“: Für ein vorgegebenes Zeitfenster vom Anpfiff bis eine Stunde nach Spielschluss – im Fall des Stuttgart-Spiels also von 18.30 bis ungefähr 20.15 Uhr – gab’s für die Fans unter der Hotline-Nummer brandaktuelle Infos zum Spielstand, zu den Torschützen und auch zum Geschehen auf den anderen Plätzen. Also arbeitete eigens geschultes Telefonpersonal über eine hochmoderne Anlage die Anrufe im Parallelbetrieb ab? „Nicht so ganz. Wenn man ehrlich ist, war es eher ein einzelner Redakteur, der gleichzeitig über eine zweite Nummer die Infos aus den Stadien bekam und quasi mit der anderen Hand die Hotline bediente“, lacht Pahlmann. „Für die Hotline hatten wir auch keine eigene Leitung bestellt, sondern benutzten unseren ganz normalen Büroapparat. Theoretisch hätte man dort also auch zu jeder anderen Zeit anrufen können.“

Nullnummer als Quotenhit

Charmant aus heutiger Sicht war auch die zeitliche Verzögerung, speziell der Infos von den Partien der Konkurrenz. „Bei den VfL-Spielen hatten wir natürlich eigene Leute vor Ort. Für das Spiel Jena gegen Mainz beispielsweise waren wir aber auf die Infos von den Agenturen angewiesen. Die kamen also immer erst mit ein paar Minuten Abstand überhaupt bei uns an, entsprechend später konnten wir sie transportieren. Für damalige Verhältnisse war das aber trotzdem noch rasend schnell.“ Über 500 Anrufe zählte die WAZ für das Abendspiel bei den Kickers und kaum weniger rund um das letzte Zweitliga-Auswärtsspiel der VfL-Historie, am 33. Spieltag beim KFC Uerdingen. Während die Wölfe in der Grotenburg nicht nur triumphal gewannen (3:0), sondern bei Niederlagen der Konkurrenz sogar vorzeitig hätten aufsteigen können, war für die Partie in Stuttgart eher festzuhalten: viel Lärm um unheimlich wenig. „Es passierte einfach nichts, was wir den Fans hätten durchgeben können. Obwohl das Spiel 0:0 ausging, war die Aktion unterm Strich für uns aber ein großer Erfolg.“

Küsse durch den Hörer

Nicht nur bei der WAZ, sondern genauso bei den Wolfsburger Nachrichten und nicht zuletzt in der Geschäftsstelle des VfL Wolfsburg übrigens schoss die Zahl der Anrufe im Frühjahr 1997 schier durch die Decke. Von Konfirmationen, Familien-Geburtstagen und Hochzeitsfeiern meldeten sich die Menschen und wollten teilweise heimlich hinter vorgehaltener Hand – mit Kapelle und Partyvolk im Hintergrund – ihren Informationshunger stillen. „Ist das schön, ich könnte Sie küssen!“, ließ eine Anruferin am Telefon der WN-Redaktion bei Kenntnis über den Wölfe-Sieg in Uerdingen ihren Emotionen freien Lauf. Gar ein Dauergast an der Strippe war im VfL-Sekretariat ein glühender Fan der Grün-Weißen aus Bayern, der sich, abgeschnitten von allen Informationen über die Reimann-Elf, fast jede Woche nach dem Wohlbefinden des Vereins und seiner Spieler erkundigte.

Feierabendbier in Fernost

Besonders kuriose Anrufe gab es natürlich auch bei der WAZ. Waren es doch speziell jene VfL-Fans, die verreist waren, in der Ferne studierten oder aus anderen Gründen fernab der Heimat lebten, die das Aufstiegstelefon nutzten. Aus Italien, Portugal und der Türkei gingen die Anrufe ein. Oder auch vom ungarischen Plattensee, wo der Trainer vom SV Nordsteimke/Barnstorf zum Telefonhörer griff und seine Truppe, die sich gerade auf Meisterschaftsfahrt befand, mit der Info über den grün-weißen Prachtsieg in Krefeld zusätzlich in Partylaune versetzte. Keine Ruhe hatte das weichenstellende Spiel auch einem Wölfe-Anhänger in Japan gelassen. Noch um 23.45 Uhr Ortszeit wählte er die Nummer der Redaktion und war erleichtert, als er endlich nach Wolfsburg durchkam. „Die Japaner gehen zwar immer früh ins Bett“, ließ er wissen. „Aber jetzt werde ich noch einen auf den VfL trinken!“