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„Der Aufstieg war ein Wunder“

Interview mit Ex-Trainer Willi Reimann über den sensationellen Bundesliga-Einzug 1997.

„Nennt eure Kinder wieder Willi!“ jubelt nach dem Aufstieg der Wölfe eine örtliche Zeitung. Die Begeisterung um die Grün-Weißen nach dem 5:4-Fabelsieg über Mainz 05, sie dreht sich im Frühsommer 1997 auch und vor allem um ihren Trainer. Knapp 20 Jahre danach gerät Willi Reimann, der heute in Norderstedt lebt, über seine Mannschaft von damals noch immer ins Schwärmen. Im ausführlichen Interview spricht der 67-Jährige über die Erfolgsformel der 97er-Truppe, seine spezielle Verbindung zu Jürgen Klopp und den allerersten Termin als VfL-Bundesliga-Coach.

Willi Reimann, Ihr Name fällt in Wolfsburg momentan oft. Da dachten wir, wir rufen mal an.

Willi Reimann: Ah, wirklich? Ich bekomme das aus der Ferne ja nicht so mit. Aber wenn Sie das sagen, dann freut mich das natürlich.

20 Jahre Bundesliga VfL Wolfsburg. Hand aufs Herz: Hätten Sie das im Moment des Aufstiegs 1997 für möglich gehalten?

Reimann: So weit hat damals ganz sicher niemand gedacht. Aber rückblickend ist das in der Tat eine ganz außergewöhnliche Leistung. Man muss sich immer vor Augen führen, unter welchen Umständen wir es damals geschafft haben. Es war im Verein gar nichts auf die Bundesliga ausgerichtet. Im Grunde war es ein Wunder, dass wir aufgestiegen sind.

Als Sie 1995 kamen, gab es am Elsterweg nicht einmal Flutlicht. Sie hatten keinen Co-Trainer und übernahmen die Mannschaft auf einem Abstiegsplatz. Was hat Sie an dieser Aufgabe trotzdem gereizt?

Reimann: Zu dieser Zeit habe ich in Hamburg eine recht erfolgreiche Amateurmannschaft betreut. Damit hätte ich auch gern weitergemacht. Gleichzeitig hatte ich aber auch große Lust, wieder im bezahlten Fußball zu arbeiten. Nur fand ich in Wolfsburg, wie Sie richtig skizzieren, zu meinen vorherigen Arbeitsbedingungen kaum einen Unterschied vor.

Ehe sich strukturell etwas verbessern konnte, hieß Ihre Mission erst mal: Klassenerhalt.

Reimann: Stimmt, und das war schwierig genug. Wir haben zwar die letzten 14 Spiele nicht mehr verloren, aber trotzdem die Rettung erst auf den letzten Metern wirklich geschafft. Allein schon diese erste Saison werde ich deshalb niemals vergessen.

In die Spielzeit 1996/1997 startete der VfL Wolfsburg folglich nicht gerade als Aufstiegskandidat. Erschwerend kam hinzu, dass mit Siggi Reich der versierteste Torjäger aufhörte. Einen legitimen Nachfolger suchte Peter Pander vergeblich.

Reimann: Man muss dazusagen, dass wir auch intern nicht die Idee hatten, aufzusteigen. Nicht die Verantwortlichen, nicht die Spieler, nicht die Zuschauer. Niemand hat damit gerechnet, dass sich die Situation so entwickeln könnte. Und dann, Stichwort Stürmersuche, fehlten uns schlichtweg die Mittel. Wir hatten einen der kleinsten Etats der Liga und konnten keine großen Gehälter oder Ablösesummen bezahlen. Auch die Unterstützung vom Werk war vergleichsweise gering. Volkswagen stellte zwar Leute ab, die für den VfL arbeiteten, aber richtige finanzielle Hilfe, wie sie sich später entwickelte, gab es noch nicht. Wir mussten uns also anders behelfen.

Wie denn genau? Der Kader veränderte sich zur Vorsaison kaum. Wie war es möglich, einen Fast-Absteiger in die Bundesliga zu führen?

Reimann: Es ging ausschließlich über den Teamgeist. Wir hatten das große Glück, in der Mannschaft Spieler zu haben, die charakterlich zusammenpassten. Diese Gemeinschaft zu erhalten, darauf habe ich immer sehr großen Wert gelegt. An einigen Stellschrauben haben wir natürlich gedreht. Große Namen konnten wir nicht holen. Aber ein Sven Ratke zum Beispiel, der über den Willen kam und mit einer unbeschreiblichen Kondition ausgestattet war, der ist für die Mannschaft Gold wert gewesen. Wenn der im Waldlauf jemanden wie Detlev Dammeier, einen unserer ausdauerstärksten Spieler, überholt hat, dann hat das auch den anderen Spielern gezeigt: Man muss richtig was tun! Wir haben sehr hart trainiert, um fit zu sein für die Belastungen in der Liga. Etwas Anderes blieb uns nicht übrig.

In der Aufstiegself gab es viele Spieler, die in der Bundesliga nicht mehr gefragt waren oder sich dort nicht durchgesetzt hatten. War auch das Teil des Erfolgsrezepts? Ein Team zu formen aus Spielern, die es sich selbst und anderen noch mal beweisen wollten?

Reimann: Erfolgsrezept ist nicht ganz das richtige Wort. Es war schlicht das einzige, was wir machen konnten. Wir haben auf die Reservebänke der anderen Vereine geschaut und versucht, die passenden Leute herauszufiltern. Viele wurden dann zu sehr großen Stützen. Jens Keller zum Beispiel oder auch Roy Präger, der als Chancentod verschrien war, bei uns aber hervorragend funktionierte und irgendwann getroffen hat wie am Fließband.

Was waren die größten Schwierigkeiten der Aufstiegssaison?

Reimann: Anfangs war es nicht einfach, eine Balance hinzubekommen zwischen dem, was wir eigentlich wollten und was unsere Mannschaft hergab. Daran mussten wir zuerst etwas basteln. Unsere Spielidee wurde es dann, aus einer geordneten Abwehr über die Flügel zu kommen mit unseren schnellen, wendigen Spielern wie Präger, Ratke oder Mathias Stammann, die nachgestoßen sind und auch torgefährlich waren. Aber das passte nicht auf Anhieb zusammen, sondern musste sich erst finden. Wir sind ja auch ein bisschen schwer reingekommen in die Saison…

… was sich anfangs auch in den Kulissen niederschlug. Wie haben Sie die Entwicklung des Zuschauerzuspruchs erlebt?

Reimann: Es war ja nicht so, dass Wolfsburg bis dahin eine Fußball-Hochburg gewesen wäre. Insofern lag die Resonanz im normalen Bereich. Den Fans ging es eben wie uns: Sie haben erst ganz spät gemerkt, dass wir die Möglichkeit haben, aufzusteigen. Nach und nach kamen dann immer ein paar Tausend mehr. Bis am Ende die ganze Region hinter uns stand.

Wann haben Sie selbst denn gespürt, dass es Richtung Bundesliga geht?

Reimann: Wenn ich ehrlich bin, heimlich schon nach der Hinserie. Da war die Mannschaft gefestigt, und wir als Trainerteam hatten ein gutes Gefühl. Wir wussten: Sofern nicht mehr allzu viel passiert wie eine schwere Verletzung, können wir Platz drei tatsächlich im Auge behalten. So weit haben wir in der Winterpause durchaus schon gedacht. Nur haben wir es nicht nach außen mitgeteilt (lacht).

Eine schwerere Verletzung gab es dann in der Tat: Kurz vor dem zweiten Rückrundenspiel riss bei Matthias Maucksch das Kreuzband.

Reimann: Genau. Das war eine Art von Rückschlag, wie wir ihn eigentlich nicht verkraften konnten. Aber sowas muss man als Trainer immer einkalkulieren. Und auch dafür haben wir am Ende eine Lösung gefunden. Es gab auch andere Probleme. Zum Beispiel mussten wir irgendwann feststellen, dass dem einen oder anderen Spieler in der entscheidenden Phase der Biss verloren gegangen war, den wir dann wieder rauskitzeln mussten. So etwas funktionierte über die Gemeinschaft. Auch das Team hinter der Mannschaft hatte dabei eine große Bedeutung. Unser Arzt Andreas Herbst zum Beispiel, Manni Kroß, Heiko Wehe und nicht zu vergessen unser Betreuer Wolfgang Schoenke.

Es war kein Zauberfußball, mit dem die Wölfe aufgestiegen sind. Was aber auffiel, war die besondere Nervenstärke speziell auf der Saisonzielgeraden. Beispiel: Uerdingen.

Reimann: Daran erinnere ich mich gut. Die Mannschaft musste beweisen, dass sie der Situation standhält. Wir durften nicht patzen, um ums für das Endspiel gegen Mainz in Stellung zu bringen. Man hat an diesem Tag gespürt, dass jeder Spieler die Chance auf die Bundesliga nutzen wollte. Die Art und Weise, wie die Mannschaft dann aufgetreten ist und auswärts beim Bundesliga-Absteiger mit 3:0 gewonnen hat, daran konnte man diesen unbedingten Willen erkennen.

Somit war klar: Es gibt das große Finale. Wie bereitet man sein Team auf solch ein Spiel vor?

Reimann: Wir haben uns zurückgezogen ins Haus Rhode, wie bei den vorherigen Heimspielen auch. Dort haben wir die Ruhe bewahrt und uns fokussiert. Vor Anpfiff in der Kabine haben die Führungsspieler das Zepter übernommen. Wenn ich an Uwe Zimmermann denke, Jens Keller und Jann Jensen, das waren ganz erfahrene Leute und charakterlich überragende Spieler. Dann Michael Spies im Mittelfeld, Detlev Dammeier natürlich, vorne unsere Raketen Stammi und Roy. Stefan Meißner hatte sich als junger Spieler toll entwickelt, und Sven Ratke, der aus meiner Sicht eine Art Schlüsselfigur war. Das war schon eine großartige Mannschaft. Um die Frage zu beantworten: Wir haben nicht viel anders gemacht. Sondern einfach gesagt: Wir haben ein wichtiges Spiel, wir sind gut drauf und zu Hause eine Macht. Ich glaube, jeder von uns wusste, dass wir das hinkriegen würden.

Ein bisschen spannend wurde das Mainz-Spiel dann trotzdem.

Reimann: Allerdings! Es war ein hochdramatischer Spielverlauf, ein Riesenspektakel für die Fans. Was da am Elsterweg los war, das war nicht zu überbieten.

Als nach Abpfiff die Dämme brachen, was ging da in Ihnen vor?

Reimann: Ich war genau wie alle anderen überwältigt davon, dass wir die Sensation geschafft hatten. Richtig auskosten konnte ich den Moment aber nicht. Nach einer Stunde ging mir schon durch den Kopf, welche nächsten Aufgaben wir jetzt im Blick haben mussten. Außerdem hatte ich, was die Wenigsten wussten, am nächsten Morgen einen Termin: Ich wurde am Knie operiert.

Sie hatten sich durch das große Saisonfinale durchquälen müssen?

Reimann: Das war leider so. Ich hatte schon seit der Vorbereitung einen Meniskusschaden und konnte nicht richtig laufen. Gleich am nächsten Tag habe ich mich deshalb auf den OP-Tisch gelegt, um zum Trainingsauftakt wieder fit sein zu können.

In welchen Situationen denken Sie heute noch an Ihre Zeit in Wolfsburg zurück?

Reimann: Diese Momente gibt es immer wieder. Ich habe natürlich verfolgt, wie sich die Dinge in Wolfsburg entwickelt haben. Wenn ich das Stadion sehe und das ganze Umfeld, dann ist das mit unseren Möglichkeiten damals nicht zu vergleichen. Und klar, wenn der VfL gegen den FSV spielt, dann denkt man an dieses unfassbare 5:4 zurück. Meine Beziehung zu den Mainzern ist ja auch zusätzlich speziell, weil sie zu meiner Frankfurter Zeit am letzten Spieltag 2002/2003 hoch in Braunschweig gewonnen haben, wir aber wegen eines mehr geschossenen Tores aufgestiegen sind. Trainer in Mainz war Jürgen Klopp, der wiederum am 11. Juni 1997 am Elsterweg mitgespielt hatte. Manchmal schreibt der Fußball schon verrückte Geschichten.

Sie haben 25 Jahre als Trainer gearbeitet. Wo genau ordnen Sie den Aufstieg mit den Wölfen da ein?

Reimann: Zusammen mit dem Aufstieg mit Eintracht Frankfurt ragt dieser Erfolg ohne Frage weit heraus. Allein schon, weil er so überraschend kam. Man muss allen Beteiligten noch heute ein großes Kompliment machen. Was die Spieler und Verantwortlichen damals geleistet haben, wie charakterstark sie aufgetreten sind, das war und bleibt eine großartige Leistung.